In St. Petersburg leben 60.000 Menschen auf der Straße. Die Organisation „Nochleshka“ versucht all jenen eine Stimme zu geben, denen niemand zuhören will – und sie mit juristischer und sozialer Hilfe zurück in ein normales Leben zu führen.
„Wenn ich abends in meinem Bett liege, stelle ich mir einfach vor, ich läge im Schlafwagon. Der Zug fährt nach Odessa, ans schwarze Meer. Nur schade, dass es keine Fenster gibt,“ träumt Larissa Pavlovna vor sich hin, während sie auf der unteren Etage eines Hochbettes liegt. Der Fußbereich des Bettes ist vollgestopft mit Plastiktüten und Kartons, in denen sie Kleidung, Bücher und persönliche Gegenstände aufbewahrt. Ganz so, als wöllte sie tatsächlich in wenigen Minuten irgendwohin aufbrechen. Doch die 71-jährige Larissa Pavlovna verweilt schon seit 2 Jahren in dieser unteren Etage des Hochbettes, das in der Obdachlosenunterkunft „Nochleshka“ steht.
Wer in Russland einmal auf der Straße landet, kommt dort nicht mehr weg
Mit 52 Schlafplätzen ist Nochleshka das größte Nachtasyl Russlands. Hilfsbedürftige finden hier nicht nur ein Bett, sondern auch juristische und soziale Beratung. Bereits seit 23 Jahren versucht die Nichtregierungsorganisation, Obdachlosen eine Stimme zu geben und sie zurück ins Leben zu führen. „Wer in Russland einmal auf der Straße landet, hat wenig Chancen, jemals wieder von dort wegzukommen“, erklärt Nadeschda Muchovna, die PR-Sprecherin von Nochleshka. Die 25-jährige ist zierlich, ihre helle Haut und die roten, locker zusammengesteckten Haare schimmern im Sonnenlicht, das durch das dreckige Dachfenster in das Verwaltungszimmer des Obdachlosenheims fällt. 15 Festangestellt und insgesamt fast 100 Freiwillige arbeiten hier für die Organisation. Die Stühle und Tische passen nicht zusammen, die Schränke stehen voll mit verschieden farbigen Ordnern, auf denen die Namen derer stehen, die in der Nochleshka Hilfe gefunden haben.
Für Larissa Pavlovna war Nochleshka die letzte Rettung. Sie rutschte auf Glatteis aus, verlor ihren Gehstock und war nicht mehr in der Lage, alleine wieder aufzustehen. Als ihre Hilferufe unbeantwortet blieben, stellte sie sich darauf ein, zu erfrieren. Zwei Fingern hat sie in dieser Nacht verloren. „Jetzt fällt es mir schwer, einen BH zuzumachen“, lacht sie und entblößt dabei das letzte Paar gelb-grauer Zähne. Journalisten fanden Larissa Pavlovna im letzten Moment und brachten sie zu Nochleshka.
Menschen mit akademischem Abschluss sind obdachlos
Doch Larissa erzählt nicht gerne von ihrer Zeit auf der Straße. Viel lieber stellt sie Fragen, will wissen, wann Jurij Gagarin in den Weltraum geflogen ist und was man aus bekannten Märchen lernen kann. „Die Erzählung der Schneekönigin zeigt, wie wichtig es ist, gut auf sein Herz aufzupassen“, erklärt Larissa Pavlovna ihr Lieblingsmärchen. Das Fragen und Erklären ist Teil ihrer Berufung. Sie hat eine Lehrerausbildung an der Moskauer Universität absolviert und in Moskau, Sankt Petersburg und der Mongolei gearbeitet.
Doch nicht alle haben so viel Glück wie Larissa Pavlovna. 60.000 Menschen leben auf den Straßen und in den Parks Sankt Petersburgs, über tausend sind allein letzten Winter gestorben. Nochleshka versucht deshalb seinen Wirkungsraum weiter auszubauen.
Montags bis freitags fährt ein Nachtbus fünf Knotenpunkte in Sankt Petersburg an, um den Menschen eine warme Mahlzeit, medizinische Grundversorgung und etwas Respekt zukommen zu lassen. Etwa 50 bis 100 Obdachlose werden so pro Abend erreicht. In dem Nachtbus fahren immer freiwillige Helfer mit – ohne sie wäre das Projekt Nochleshka nicht zu bewältigen. Eine der Freiwilligen ist Sarah Schaub. Die 22-Jährige Schweizerin studiert Osteuropastudien und arbeitet für zwei Monate in der Nochleshka. „Besonders überrascht hat mich, wie viele Menschen mit akademischem Abschluss hier auf der Straße leben. Das hat mir klar gemacht, dass ihre Geschichte durch eine aneinander Reihung unglücklicher Zufälle auch meine Geschichte sein könnte“, erzählt die Studentin.
Ein Mensch ohne Papiere ist in Russlands nichts wert
Dass es in Russland tatsächlich relativ einfach ist, obdachlos zu werden, machen die von Nachleshka publizierten Zahlen deutlich. Bei über einem Drittel der Menschen liegen die Gründe für die Obdachlosigkeit an familiären Schwierigkeiten. Oft ist es eine Scheidung, nach der einer der Partner sich ohne Wohnung auf der Straße wiederfindet, in einigen Fällen sind es auch die Kinder, die die Eltern aus der Wohnung vertreiben. „Die Parkbank scheint dann oft eine Notlösung, für ein oder zwei Nächte. Das Problem ist, dass viele ausgeraubt werden. Und ein Mensch ohne Papiere ist in Russland praktisch nichts wert“, seufzt Nadeschda Muchonovna. Tatsächlich entscheidet vor allem die Registrierung eines festen Wohnsitzes in Russland darüber, ob ein Mensch ein Bürger mit dem Recht auf medizinische Versorgung und einer (politischen) Stimme oder ein Schandfleck im Stadtbild St. Petersburgs ist. Die Juristen von Nochleshka helfen den Obdachlosen bei der Beantragung neuer Dokumente.
Anders als die jüngeren Bewohner der Nochleshka wartet Larissa Pavlovna nicht mehr darauf, wieder arbeiten zu können, sondern auf einen Platz in einem Altenheim. Sie hat drei Kinder und zwei Enkel. Wo diese sind und wieso sie sie nicht aufnehmen können, wollte Larissa Pavlovna nicht erzählen. Obwohl sie ihren jüngsten Enkel bis jetzt noch nicht gesehen, sondern nur am Telefon mit ihm gesprochen hat, vermisst sie ihn. Larissa Pavlovna hat in den letzten Jahren viel Hilfe in der Nochleska erfahren– und versucht jetzt selbst zu helfen. Mit guten Ratschlägen darüber, wie man Kindern das Schwimmen beibringt und Falten vermeidet. Sie ist sich sicher, dass Geben und Nehmen sich im Leben irgendwann ausgleichen. „Früher habe ich Frikadellen am Esstisch geklaut und sie den streunenden Hunden gegeben. Als ich im Winter selbst auf St. Petersburgs Straßen herumgestreunt bin, haben sich Hunde nachts um mich herum gelegt und mir etwas von ihrer Wärme abgegeben.“
„Wenn ich abends in meinem Bett liege, stelle ich mir einfach vor, ich läge im Schlafwagon. Der Zug fährt nach Odessa, ans schwarze Meer. Nur schade, dass es keine Fenster gibt,“ träumt Larissa Pavlovna vor sich hin, während sie auf der unteren Etage eines Hochbettes liegt. Der Fußbereich des Bettes ist vollgestopft mit Plastiktüten und Kartons, in denen sie Kleidung, Bücher und persönliche Gegenstände aufbewahrt. Ganz so, als wöllte sie tatsächlich in wenigen Minuten irgendwohin aufbrechen. Doch die 71-jährige Larissa Pavlovna verweilt schon seit 2 Jahren in dieser unteren Etage des Hochbettes, das in der Obdachlosenunterkunft „Nochleshka“ steht.
Wer in Russland einmal auf der Straße landet, kommt dort nicht mehr weg
Mit 52 Schlafplätzen ist Nochleshka das größte Nachtasyl Russlands. Hilfsbedürftige finden hier nicht nur ein Bett, sondern auch juristische und soziale Beratung. Bereits seit 23 Jahren versucht die Nichtregierungsorganisation, Obdachlosen eine Stimme zu geben und sie zurück ins Leben zu führen. „Wer in Russland einmal auf der Straße landet, hat wenig Chancen, jemals wieder von dort wegzukommen“, erklärt Nadeschda Muchovna, die PR-Sprecherin von Nochleshka. Die 25-jährige ist zierlich, ihre helle Haut und die roten, locker zusammengesteckten Haare schimmern im Sonnenlicht, das durch das dreckige Dachfenster in das Verwaltungszimmer des Obdachlosenheims fällt. 15 Festangestellt und insgesamt fast 100 Freiwillige arbeiten hier für die Organisation. Die Stühle und Tische passen nicht zusammen, die Schränke stehen voll mit verschieden farbigen Ordnern, auf denen die Namen derer stehen, die in der Nochleshka Hilfe gefunden haben.
Für Larissa Pavlovna war Nochleshka die letzte Rettung. Sie rutschte auf Glatteis aus, verlor ihren Gehstock und war nicht mehr in der Lage, alleine wieder aufzustehen. Als ihre Hilferufe unbeantwortet blieben, stellte sie sich darauf ein, zu erfrieren. Zwei Fingern hat sie in dieser Nacht verloren. „Jetzt fällt es mir schwer, einen BH zuzumachen“, lacht sie und entblößt dabei das letzte Paar gelb-grauer Zähne. Journalisten fanden Larissa Pavlovna im letzten Moment und brachten sie zu Nochleshka.
Menschen mit akademischem Abschluss sind obdachlos
Doch Larissa erzählt nicht gerne von ihrer Zeit auf der Straße. Viel lieber stellt sie Fragen, will wissen, wann Jurij Gagarin in den Weltraum geflogen ist und was man aus bekannten Märchen lernen kann. „Die Erzählung der Schneekönigin zeigt, wie wichtig es ist, gut auf sein Herz aufzupassen“, erklärt Larissa Pavlovna ihr Lieblingsmärchen. Das Fragen und Erklären ist Teil ihrer Berufung. Sie hat eine Lehrerausbildung an der Moskauer Universität absolviert und in Moskau, Sankt Petersburg und der Mongolei gearbeitet.
Doch nicht alle haben so viel Glück wie Larissa Pavlovna. 60.000 Menschen leben auf den Straßen und in den Parks Sankt Petersburgs, über tausend sind allein letzten Winter gestorben. Nochleshka versucht deshalb seinen Wirkungsraum weiter auszubauen.
Montags bis freitags fährt ein Nachtbus fünf Knotenpunkte in Sankt Petersburg an, um den Menschen eine warme Mahlzeit, medizinische Grundversorgung und etwas Respekt zukommen zu lassen. Etwa 50 bis 100 Obdachlose werden so pro Abend erreicht. In dem Nachtbus fahren immer freiwillige Helfer mit – ohne sie wäre das Projekt Nochleshka nicht zu bewältigen. Eine der Freiwilligen ist Sarah Schaub. Die 22-Jährige Schweizerin studiert Osteuropastudien und arbeitet für zwei Monate in der Nochleshka. „Besonders überrascht hat mich, wie viele Menschen mit akademischem Abschluss hier auf der Straße leben. Das hat mir klar gemacht, dass ihre Geschichte durch eine aneinander Reihung unglücklicher Zufälle auch meine Geschichte sein könnte“, erzählt die Studentin.
Ein Mensch ohne Papiere ist in Russlands nichts wert
Dass es in Russland tatsächlich relativ einfach ist, obdachlos zu werden, machen die von Nachleshka publizierten Zahlen deutlich. Bei über einem Drittel der Menschen liegen die Gründe für die Obdachlosigkeit an familiären Schwierigkeiten. Oft ist es eine Scheidung, nach der einer der Partner sich ohne Wohnung auf der Straße wiederfindet, in einigen Fällen sind es auch die Kinder, die die Eltern aus der Wohnung vertreiben. „Die Parkbank scheint dann oft eine Notlösung, für ein oder zwei Nächte. Das Problem ist, dass viele ausgeraubt werden. Und ein Mensch ohne Papiere ist in Russland praktisch nichts wert“, seufzt Nadeschda Muchonovna. Tatsächlich entscheidet vor allem die Registrierung eines festen Wohnsitzes in Russland darüber, ob ein Mensch ein Bürger mit dem Recht auf medizinische Versorgung und einer (politischen) Stimme oder ein Schandfleck im Stadtbild St. Petersburgs ist. Die Juristen von Nochleshka helfen den Obdachlosen bei der Beantragung neuer Dokumente.
Anders als die jüngeren Bewohner der Nochleshka wartet Larissa Pavlovna nicht mehr darauf, wieder arbeiten zu können, sondern auf einen Platz in einem Altenheim. Sie hat drei Kinder und zwei Enkel. Wo diese sind und wieso sie sie nicht aufnehmen können, wollte Larissa Pavlovna nicht erzählen. Obwohl sie ihren jüngsten Enkel bis jetzt noch nicht gesehen, sondern nur am Telefon mit ihm gesprochen hat, vermisst sie ihn. Larissa Pavlovna hat in den letzten Jahren viel Hilfe in der Nochleska erfahren– und versucht jetzt selbst zu helfen. Mit guten Ratschlägen darüber, wie man Kindern das Schwimmen beibringt und Falten vermeidet. Sie ist sich sicher, dass Geben und Nehmen sich im Leben irgendwann ausgleichen. „Früher habe ich Frikadellen am Esstisch geklaut und sie den streunenden Hunden gegeben. Als ich im Winter selbst auf St. Petersburgs Straßen herumgestreunt bin, haben sich Hunde nachts um mich herum gelegt und mir etwas von ihrer Wärme abgegeben.“