„Langeweile schadet der frühkindlichen Entwicklung.“
Jakobsen legt eine Kunstpause ein und schaut direkt in die Kamera.
„Je älter der Mensch wird, desto aktiver kann er gegen den unsäglichen Zustand des Nichtstuns vorgehen. Aber was ist mit den Kleinsten in unserer Gesellschaft? Denen, die noch nicht wissen, wie sie sich helfen können?“
Jakobsen zwirbelt seinen Moustache.
„Können wir dabei zusehen, wie sie Löcher in die Luft starren?“
Bei den durch den Koalitionsbruch angestoßenen Neuwahlen hat die Partei Umdenken den Einzug in den Bundestag geschafft.
„Diese Löcher werden zu Narben in der Entwicklung des Kindes. Der Kern des Terrors ist das sinnlose Nichtstun.“
Das Volk hat seine alten Politiker satt.
„Was glauben Sie, wie viel leistungsfähiger, ausgeglichener und glücklicher wären unsere Kinder, würden wir sie ein für alle Mal von der Pein der Langeweile erlösen?“
Jakobsens Beine stecken in engen Röhrenjeans. Er trägt ein Hemd. Über seinen definierten Oberkörper spannen sich Hosenträger. Keine wilde Gestikulation, moderate Stimmlage. Er ist so glatt wie der Bildschirm seines Smartphones.
„Was wir brauchen, meine Damen und Herren, das ist eine Anti-Langeweile-Kampagne.“
Jakobsen zwinkert in die Kamera, dann senkt er den Blick. Seine Anhänger erheben sich und beginnen zu klatschen. Verhalten folgen Abgeordnete aus anderen Reihen. Jede Krise hat ihre Gewinner.
Valentin steigt aus der Kapsel, die ihn jeden Morgen in den Anti-Langeweile-Komplex manövriert. Nur ganz selten hat seine Mama Zeit, ihn zu Fuß dorthin zu bringen. Sie hat lange auf den perfekten Zeitpunkt für ein Kind gewartet, und hätte sie gewusst, dass sie schon bald unsterblich sein würde, hätte sie ihre Eizellen wohl noch ein wenig länger im Gefrierfach gelassen. Valentin betritt das Glasgebäude und die lächelnde Frau A reicht ihm eine Brille mit Ohrstöpseln. Beim Aufsetzen stellt die Brille eine automatische Verbindung zu der Anti-Langeweile-Mediathek her und erzeugt so eine erweiterte Realität. Elektroden in den Brillenbügeln und den Ohrstöpseln messen die Gehirnströme und ein Algorithmus ermittelt, auf welche Stimuli eine verstärkte Reaktion seitens des Trägers erfolgt. Anhand dieser Informationen wird ein individuell auf den Nachwuchskonsumenten abgestimmtes Förderprogramm entwickelt. Ein Pilotprojekt, teil finanziert von Umdenken.
Valentin mag die Brille nicht, die Bügel drücken zu stark und die Ohrstöpsel fallen ihm ständig aus den Ohrmuscheln. Er geht in den Innenhof des Komplexes und nimmt die Brille ab, sobald er außer Sichtweite von Frau A ist. Nur wenige Kinder sind draußen. Die meisten begeben sich mit ihrer Brille direkt in die Kuschelecke im Eingangsbereich, nehmen ab und an einen Schluck Nährstoffwasser, das die Mahlzeiten ersetzt, und bleiben den ganzen Tag dort liegen. Im Innenhof ist es ruhig, die Glaswände schirmen die Geräusche von außen ab. Wenn Valentin den Kopf hebt, sieht er ein blaues Viereck. Er setzt sich auf seinen Lieblingsplatz unter den Baum mit den lustigen Früchten und legt die Brille neben sich. Dann hebt er eine der stacheligen Kastanien auf.
„Autsch“, flüstert er, als er sich piekst und schüttelt die Hand, um den Schmerz zu vertreiben.
Kurz überlegt er, dann bohrt er den Nagel seines Daumens in die grüne Hülle. Sein Mund steht ein Stückchen offen, die Zunge hat er auf die linke Seite geschoben. Behutsam befreit er den glänzend braunen Schatz von dem Stachelpanzer. Valentins Augen leuchten, als er über die glatte Oberfläche streicht. Wem könnte er seine Kastanie zeigen?
Lilli mit den blonden Zöpfen sitzt in einer anderen Ecke des Innenhofs. Die Brille sitzt auf ihrem Stupsnäschen und ihr Mund steht offen. Ihr Pulsschlag verändert sich bei Prinzessin Lillifee Produkten, Smarties und Pferden. Im Betreuungszimmer des Komplexes können die Erzieherinnen Frau B und Frau C auf einem der vielen Wandmonitore verfolgen, wie Lilli durch die Prinzessin Lillifee Zauberwelt steuert und dabei viele, viele bunte Smarties sammelt. Noch bevor Lilli selber weiß, dass sie an ein Pferd denkt, kommt die Feuerrate ihrer Neurone in der Anti-Langeweile- Mediathek an, wird dort entschlüsselt und als Eintrag auf dem eigens für Lilli angelegten Datenserver gespeichert. Binnen weniger Sekunden wird ein Pferd aus dem Fundus der Mediathek in die Zauberwelt von Nachwuchskonsumentin 3198 projiziert. Es wiehert zwei Mal und fängt an zu grasen. Um sich ihm nähern zu können braucht Lilli Pferdefutter, wofür sie sechs ihrer vielen, vielen bunten Smarties eintauschen muss. Frau Bs und Frau Cs Kompetenzbereich ist darauf ausgerichtet, eine störungsfreie Verbindung zwischen den Nachwuchskonsumenten und der Anti-Langeweile-Mediathek zu gewährleisten. Kleinste Aussetzer könnten zu Langeweile führen.
Valentin traut sich nicht, zu Lilli zu gehen. Er schaut sich weiter um und wirft dabei seine Kastanie von einer Hand in die andere. Keines der anderen Kinder sieht ihn. Lilli nicht, Christoph nicht, und auch der rothaarige Andi, mit dem Valentin mal eine schwarzes, krabbelndes Ding zu essen versucht hat, sitzt nun auf den morschen Balken des Sandkastens und ist in eine anderen Realität versunken. Valentin formt einen Schmollmund und schiebt die Lippen hin-und her. Geräuschvoll atmet er aus. Sein Blick fällt auf die neben ihm liegende Brille. Er verstaut die Kastanie in seiner Hosentasche und setzt sich das neue Spielzeug auf.
„Irgendetwas stimmt mit diesem Jungen nicht.“
Frau B und Frau C haben ihren Blick beide auf den Bildschirm in der linken Ecke des Betreuungszimmers gerichtet und schütteln den Kopf synchron.
Keine Verbindung zu Nachwuchskonsument 4317 möglich. Er ist registriert, aber uns liegen keinerlei weiterverwertbare Daten vor. Bitte um Überprüfung!
Die Nachricht aus dem Verteidigungsministerium gegen Langeweile blinkt ein paar Mal auf allen Wandmonitoren auf.
Keine Verbindung zu Nachwuchskonsument 4317 möglich. Er ist registriert, aber uns liegen keinerlei weiterverwertbare Daten vor. Bitte um Überprüfung!
Valentin wird schwindelig und er nimmt die Brille schnell wieder ab.
Frau C überlegt: „Ich fürchte, wir werden seine Oxytocingeberin zum Gespräch bitten müssen.“
Frau B nickt.
„Frau Liebig, es tut uns leid, dass wir Ihr Potential strapazieren müssen“, beginnt Frau B die unangenehme Unterredung.
Frau C wirft einen verstohlenen Blick auf die Uhr am linken Handgelenk von Valentins Mutter, auf der die bereits verbrachten Stunden im Optimalentfaltungsbereich angezeigt werden. 6:43:12 blinkt auf dem Display und es ist schon Nachmittag. Frau Cs eigene Uhr zeigt 9:28:54 an. Die Uhr sagt ihrem Träger, wann und wie viel Nahrungsflüssigkeit er zu sich nehmen muss, wie viele Schritte er zu gehen hat und wann der ideale Zeitpunkt zum Ruhen ist. Ein echter Helfer, um die eigenen Ressourcen effizient zu verwalten!
„Ihr Sohn verweigert sich der individuell für ihn gestalteten pädagogischen Betreuung und Förderung des Anti-Langeweile-Komplexes“, rügt Frau B die vor ihr sitzende, braunhaarige Frau, die bald wieder eine Vorsorgehautstraffung braucht.
„Wir können Ihnen unter diesen Umständen keine Garantie für eine gesunde, geistige Entwicklung Valentins geben, so wie wir es sonst für jedes unserer betreuten Kinder tun.“
Frau B wartet, bis Frau Liebigs Gesicht an Farbe verliert. Dann senkt sie die Stimme, als würde sie einer guten Freundin die geheime Zutat ihres Lieblingsrezeptes verraten und hält ihre an Frau Liebigs Uhr.
„Die Kontaktdaten des mit unserer Einrichtung kooperierenden Arztes.“
Die beiden Frauen warten, bis das Bling ihnen verrät, dass der Datentransfer erfolgreich abgeschlossen wurde.
„Langeweile im Kindesalter führte zu Entwicklungsstörungen, die sich auf die ganze Gesellschaft auswirken“, schaltet nun auch Frau C sich ein. „Sie sollten sich möglichst schnell mit Doktor M in Verbindung setzen.“
„Danke“, flüstert Frau Liebig, wirft im Aufstehen beinahe den Stuhl um und verlässt den Anti-Langeweile-Komplex mit Valentin an der Hand.
Auf die Wände des Wartezimmers von Doktor M werden Trailer projiziert, die alle nicht länger als zwei bis drei Minuten dauern. Alles andere würde die Konzentrationsspanne des Zuschauers überfordern. Valentin schaut mit großen Augen zu, wie die Leute früher krank wurden, weil sie Dinge aus der schmutzigen Erde aßen. Lautlos betritt Doktor M das Zimmer.
„Valentin“, begrüßt er seinen kleinen Patienten, als hätte er den ganzen Tag auf ihn gewartet.
Doktor M hat olivfarbene Haut, die durch den Kontrast zu seinem weißen Kittel noch dunkler wirkt. Mit der Hand macht er eine einladende Bewegung, die Valentin auffordert, ihm zu folgen. Auf Doktor Ms Handrücken kann Valentin dunkle Härchen erkennen. Er hat keine Angst vor Ärzten, er weiß schon lange, dass der menschliche Körper schrecklich dumm ist und Ärzte ihn besser machen können und so geht er arglos mit Doktor M in das Behandlungszimmer.
„Setz dich doch,“ sagt Doktor M und deutet auf einen Stuhl, der Ähnlichkeit mit dem in einer Zahnarztpraxis hat.
Valentin gehorcht und ist überrascht, wie gemütlich der Stuhl ist.
„Leg deinen Kopf nach hinten.“
Valentin zögert.
„Mach schon“, drängt der Arzt und lächelt, als er merkt, dass seine Schroffheit Valentin verunsichert. Sobald Valentins Kopf die Liegefläche berührt, fängt es an, um ihn herum zu blinken und zu piepsen. Er steht auf einem Fußballfeld, dann in einem Dschungel, kurz darauf in einem Schwimmbad und schließlich türmt sich ein riesengroßer Becher Erdbeereis vor ihm auf. Doktor M überprüft die körperlichen Reaktionen Valentins auf die vor ihn projizierten Welten. Die für Nachwuchskonsument 4317 überdurchschnittlich stimulierenden Bereiche sollen herausgefiltert werden. Valentin wird jetzt an Regalen voller Spielzeug und Süßigkeiten vorbei geschickt. Als Valentin seine Lieblingsschokolade Nussknacker entdeckt, bekommt er großen Appetit und streckt er sich nach vorne aus, um nach der Vollmilchschokolade mit ganzen Nüssen zu greifen. Die Verbindung bricht ab und Valentin findet sich in dem weißen Behandlungszimmer von Doktor M wieder. Verwirrt schaut er sich um.
„Danke, das reicht schon“, lächelt der Mann im weißen Kittel.
Valentin wird hinaus- und seine Mutter hineingebeten. Im Vorbeigehen streicht Frau Liebigs Hand über Valentins Rücken. Doktor M führt sie in das Beratungszimmer und bedeutet ihr, auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz zu nehmen. Zwischen ihnen steht ein Tisch, der so weiß ist, wie auch sonst alles in dieser Arztpraxis.
„Frau Liebig, eine gute und eine schlechte Nachricht – welche wollen sie zuerst hören?“ Doktor M‘s weiße Zähne blitzen.
Frau Liebig seufzt:„Die schlechte.“
Mit einem Tippen verwandelt Doktor M die Tischplatte in ein Tablet.
„Valentin weist tatsächlich abnormes Verhalten auf. Sein Gehirn ist überdurchschnittlich leicht erregbar, gleichzeitig sendet es Impulse aus, mit denen unsere Mediathek nichts anfangen kann.“
Der Doktor schiebt Grafiken auf der Tischoberfläche hin und her.
„Er denkt also an Dinge, die es gar nicht gibt.“
Ein missbilligender Blick trifft Valentins Mutter. Ihre Atmung wird unregelmäßig und sie errötet.
„Wie er auf solche Gedanken kommt sei mal beiseite gestellt.“
Der Arzt lächelt wieder.
„Wichtiger ist nämlich, dass wir ihm helfen können.“
Doktor M entfernt sämtliche Grafiken mit einem Wisch und die Tischplatte ist wieder weiß. Voller Hoffnung sieht Frau Liebig ihn an.
„Zunächst geben wir Valentin Tabletten, die ihm helfen, sich besser zu konzentrieren und ihn auf das individuell zugeschnittene Förderprogramm vorzubereiten.“
Die Werbeanzeige eines Pharmakonzerns blinkt auf der Tischplatte auf.
Der kleine Unterschied: Mit Rita… zu einem erfolgreichen Morgen.
„Da Valentin sich jedoch in der Vergangenheit durch Absetzen der Brille dem Förderprogramm verweigert hat, sollten weitere Maßnahmen in Betracht gezogen werden.“
Frau Liebig schweigt.
„ Eventuelle Langzeitschäden der Langeweile könnten so vielleicht noch verhindert werden,“ setzt Doktor M nach. Der Satz tut seine Wirkung.
„Welche Maßnahmen wären das denn?“, erkundigt sich Frau Liebig zögernd.
„Wir setzen Valentin unter lokaler Betäubung einen Chip ein, der die Brille überflüssig macht und ihn direkt mit der Mediathek des Anti-Langeweile-Zenters verbindet. Dadurch kann er in kürzester Zeit auf denselben Stand mit den anderen Kinder seines Alters gebracht werden – wenn nicht sogar darüber hinaus. Außerdem geben wir Ihnen eine lebenslange Anti-Langeweile Garantie für Valentin.“
Doktor M berührt die Tischplatte und ein Vertrag erscheint auf Frau Liebigs Seite des Tisches. Der Arzt reicht ihr einen Eingabestift.
„Sie müssen nur unterschreiben.“
Als Valentin aus der Narkose erwacht, juckt sein rechtes Ohr. Er hat geträumt, er habe auf einer Wiese gelegen, im hohen Gras. Vielleicht ist eines der schwarzen Dinger in sein Ohr gekrochen? Plötzlich steht der Mann im weißen Kittel vor ihm.
„So, lieber Valentin. Ich wünsche dir ein unterhaltsames Leben. Möge die Langeweile nie wieder Einzug in deine Gedanken finden.“
Jakobsen blickt jedem Minister im Verteidigungskampf gegen die Langeweile in die Augen.
„Wir müssen Ruhe bewahren.“
Irgendwer muss den Hackern geholfen haben.
„Unsere Freunde haben die Datenbank ausspioniert und versuchen, die Verbindung zwischen Mediathek und Konsument zu ihren Gunsten zu manipulieren.“
Jakobsen zwingt sich in den Bauch zu atmen.
„Wir reagieren mit einem Gegenvirus. Wenn wir jetzt nicht schnell sind, bricht die Verbindung zwischen Konsument und Mediathek in weniger als zwei Stunden ab.“
Unglaube in den Gesichtern der Minister. Jakobsen flucht innerlich. Wer ist wohl die Ratte?
„Lassen sie sämtliche Unterhaltungstrailer, die der Mediathek zur Verfügung stehen, über die Bildschirme im öffentlichen Raum laufen“, ordnet er an. „Wir dürfen nur keine Langeweile ausbrechen lassen.“
Valentin bewegt sich durch das Einkaufszentrum, in dem es alles gibt, was er begehrenswert findet. In einem Schaufenster sieht er Lilli aus der Parallelklasse, die ihn freundlich anlächelt. Er bleibt vor dem Schaufenster stehen und blickt sie an. Wenn er ihre Bluse antippt blinken zwölf Tafeln Nussknackerschokolade auf, mit denen er das, was darunter liegt, freischalten kann. Das Programm bietet ihm die Möglichkeit, Schokolade vielfältig zu verwenden, sie an andere Mitspieler zu verleihen oder im Ausland zu investieren. Potentielle Kriminelle und angehende Schuldenmacher werden durch das Nutzerverhalten frühzeitig von der Datenbank erkannt. Gleichzeitig lernen die Nachwuchskonsumenten, zu wirtschaften. Der Chip hat die Brille für alle nachfolgenden Generationen ersetzt.
„Verdammt, wie konnte dieser scheiß Virus überhaupt unbemerkt in unsere Datenbank eindringen, Sie Idiot? Sorgen Sie für Unterhaltung, sonst bricht hier bald das Chaos aus!“
Keine Kunstpausen mehr, dafür fehlt die Zeit.
Ein kleiner Mann mit großen Achselschweißflecken unterbricht die Krisensitzung: „Die Öffentlichen sind jetzt auch betroffen, Chef.“
Jakobsens Hände verharren in der Luft. „Wir werden sterben. Wir werden alle vor Langeweile sterben.“
Valentin findet sich in der Kuschelecke wieder. Sein Atem geht schnell. Er versucht, einen Gedanken zu fassen. Es ist, als renne ein Welpe seinem eigenen Schwanz hinterher. Was sind das für Leute um ihn herum? Valentin strengt sich an, sich zu konzentrieren, auf irgendetwas, überlegt, was er gegen die Stille in seinem Kopf, die an die Schädeldecke haut, tun kann. Sie ist so laut, dass er sich die Ohren zuhalten muss. Er schreit, um sie zu übertönen. Andere Nachwuchskonsumenten, die mit ihm in der Kuschelecke aufgetaucht sind, nachdem die Verbindung zur Mediathek plötzlich abgebrochen ist, folgen seinem Beispiel. Einige springen auf. Frau A, B und C sind in Tränen aufgelöst und zur Tür hinausgestürmt. Auch Valentin kann nicht mehr sitzen. Seine Beine zittern, als er aufsteht. Wie lange hat er schon nicht mehr gestanden? Valentin hört ein Wimmern und erschreckt, als er merkt, dass er es ist, der zu weinen angefangen hat. Er weiß nicht, wann er das letzte Mal geweint hat, ob er überhaupt irgendwann schon einmal geweint hat. Valentin tritt aus dem Anti-Langeweile-Komplex heraus und beginnt zu rennen. Er rennt und schreit und rennt und immer wieder begegnet er Menschen, die das Selbe tun. Keiner bleibt stehen und fragt den anderen, warum hier geschrien wird. Wie führt man ein Gespräch? Irgendwann kann Valentin nicht mehr. Er schnappt nach Luft, Rotze klebt ihm im Gesicht. Mit aller Kraft presst er die Hände gegen seinen Schädel.
„Die erste, nationale Langeweileepidemie hat ihre unschuldigen Opfer gefordert.“
Die Augen der Nachrichtensprecherin sind gerötet, doch ihre Stimme ist fest. Die öffentlichen Bildschirme funktionieren wieder. Valentin liegt auf dem Boden. Er spürt sein Herz gegen den Asphalt hämmern und wusste gar nicht, dass Herzen so laut schlagen können. Er spürt die Hitze, die sich in ihm ausbreitet und wusste gar nicht, dass sich sein Körper derart erwärmen kann. Er hat einen metallenen Geschmack im Mund. Ein angenehmes Gefühl breitet sich in ihm aus, so als würde er sich die Ohren mit überdimensionalen Q-Tips putzen, an deren Enden riesige Wattebäusche steckten, die sich im ganzen Kopf ausdehnten. Er hat aufgehört, gegen die Stille zu kämpfen und gibt sich ihr hin. Verbindung zu Nachwuchskonsument 4317 kann nicht mehr aufgebaut werden.
„Meine Damen und Herren, jetzt wo wir wissen, wozu die Langeweile fähig ist, müssen wir noch aktiver, noch bestimmter und noch kompromissloser im Kampf gegen diese Hydra vorgehen.“ Es ist Jakobsens letzte Rede vor seinem Rücktritt. Er ist ein bisschen weniger glatt als noch vor ein paar Jahren, trotz aller Vitalitätsmaßnahmen. Wer genau hinsieht, wird Ringe unter seinen blauen Augen erkennen können.
„Deswegen: Gehen sie noch heute zum Arzt und lassen Sie sich einen Chip einpflanzen. Damit so etwas nie wieder passiert. Keine Macht der Langeweile!“
Jakobsen legt eine Kunstpause ein und schaut direkt in die Kamera.
„Je älter der Mensch wird, desto aktiver kann er gegen den unsäglichen Zustand des Nichtstuns vorgehen. Aber was ist mit den Kleinsten in unserer Gesellschaft? Denen, die noch nicht wissen, wie sie sich helfen können?“
Jakobsen zwirbelt seinen Moustache.
„Können wir dabei zusehen, wie sie Löcher in die Luft starren?“
Bei den durch den Koalitionsbruch angestoßenen Neuwahlen hat die Partei Umdenken den Einzug in den Bundestag geschafft.
„Diese Löcher werden zu Narben in der Entwicklung des Kindes. Der Kern des Terrors ist das sinnlose Nichtstun.“
Das Volk hat seine alten Politiker satt.
„Was glauben Sie, wie viel leistungsfähiger, ausgeglichener und glücklicher wären unsere Kinder, würden wir sie ein für alle Mal von der Pein der Langeweile erlösen?“
Jakobsens Beine stecken in engen Röhrenjeans. Er trägt ein Hemd. Über seinen definierten Oberkörper spannen sich Hosenträger. Keine wilde Gestikulation, moderate Stimmlage. Er ist so glatt wie der Bildschirm seines Smartphones.
„Was wir brauchen, meine Damen und Herren, das ist eine Anti-Langeweile-Kampagne.“
Jakobsen zwinkert in die Kamera, dann senkt er den Blick. Seine Anhänger erheben sich und beginnen zu klatschen. Verhalten folgen Abgeordnete aus anderen Reihen. Jede Krise hat ihre Gewinner.
Valentin steigt aus der Kapsel, die ihn jeden Morgen in den Anti-Langeweile-Komplex manövriert. Nur ganz selten hat seine Mama Zeit, ihn zu Fuß dorthin zu bringen. Sie hat lange auf den perfekten Zeitpunkt für ein Kind gewartet, und hätte sie gewusst, dass sie schon bald unsterblich sein würde, hätte sie ihre Eizellen wohl noch ein wenig länger im Gefrierfach gelassen. Valentin betritt das Glasgebäude und die lächelnde Frau A reicht ihm eine Brille mit Ohrstöpseln. Beim Aufsetzen stellt die Brille eine automatische Verbindung zu der Anti-Langeweile-Mediathek her und erzeugt so eine erweiterte Realität. Elektroden in den Brillenbügeln und den Ohrstöpseln messen die Gehirnströme und ein Algorithmus ermittelt, auf welche Stimuli eine verstärkte Reaktion seitens des Trägers erfolgt. Anhand dieser Informationen wird ein individuell auf den Nachwuchskonsumenten abgestimmtes Förderprogramm entwickelt. Ein Pilotprojekt, teil finanziert von Umdenken.
Valentin mag die Brille nicht, die Bügel drücken zu stark und die Ohrstöpsel fallen ihm ständig aus den Ohrmuscheln. Er geht in den Innenhof des Komplexes und nimmt die Brille ab, sobald er außer Sichtweite von Frau A ist. Nur wenige Kinder sind draußen. Die meisten begeben sich mit ihrer Brille direkt in die Kuschelecke im Eingangsbereich, nehmen ab und an einen Schluck Nährstoffwasser, das die Mahlzeiten ersetzt, und bleiben den ganzen Tag dort liegen. Im Innenhof ist es ruhig, die Glaswände schirmen die Geräusche von außen ab. Wenn Valentin den Kopf hebt, sieht er ein blaues Viereck. Er setzt sich auf seinen Lieblingsplatz unter den Baum mit den lustigen Früchten und legt die Brille neben sich. Dann hebt er eine der stacheligen Kastanien auf.
„Autsch“, flüstert er, als er sich piekst und schüttelt die Hand, um den Schmerz zu vertreiben.
Kurz überlegt er, dann bohrt er den Nagel seines Daumens in die grüne Hülle. Sein Mund steht ein Stückchen offen, die Zunge hat er auf die linke Seite geschoben. Behutsam befreit er den glänzend braunen Schatz von dem Stachelpanzer. Valentins Augen leuchten, als er über die glatte Oberfläche streicht. Wem könnte er seine Kastanie zeigen?
Lilli mit den blonden Zöpfen sitzt in einer anderen Ecke des Innenhofs. Die Brille sitzt auf ihrem Stupsnäschen und ihr Mund steht offen. Ihr Pulsschlag verändert sich bei Prinzessin Lillifee Produkten, Smarties und Pferden. Im Betreuungszimmer des Komplexes können die Erzieherinnen Frau B und Frau C auf einem der vielen Wandmonitore verfolgen, wie Lilli durch die Prinzessin Lillifee Zauberwelt steuert und dabei viele, viele bunte Smarties sammelt. Noch bevor Lilli selber weiß, dass sie an ein Pferd denkt, kommt die Feuerrate ihrer Neurone in der Anti-Langeweile- Mediathek an, wird dort entschlüsselt und als Eintrag auf dem eigens für Lilli angelegten Datenserver gespeichert. Binnen weniger Sekunden wird ein Pferd aus dem Fundus der Mediathek in die Zauberwelt von Nachwuchskonsumentin 3198 projiziert. Es wiehert zwei Mal und fängt an zu grasen. Um sich ihm nähern zu können braucht Lilli Pferdefutter, wofür sie sechs ihrer vielen, vielen bunten Smarties eintauschen muss. Frau Bs und Frau Cs Kompetenzbereich ist darauf ausgerichtet, eine störungsfreie Verbindung zwischen den Nachwuchskonsumenten und der Anti-Langeweile-Mediathek zu gewährleisten. Kleinste Aussetzer könnten zu Langeweile führen.
Valentin traut sich nicht, zu Lilli zu gehen. Er schaut sich weiter um und wirft dabei seine Kastanie von einer Hand in die andere. Keines der anderen Kinder sieht ihn. Lilli nicht, Christoph nicht, und auch der rothaarige Andi, mit dem Valentin mal eine schwarzes, krabbelndes Ding zu essen versucht hat, sitzt nun auf den morschen Balken des Sandkastens und ist in eine anderen Realität versunken. Valentin formt einen Schmollmund und schiebt die Lippen hin-und her. Geräuschvoll atmet er aus. Sein Blick fällt auf die neben ihm liegende Brille. Er verstaut die Kastanie in seiner Hosentasche und setzt sich das neue Spielzeug auf.
„Irgendetwas stimmt mit diesem Jungen nicht.“
Frau B und Frau C haben ihren Blick beide auf den Bildschirm in der linken Ecke des Betreuungszimmers gerichtet und schütteln den Kopf synchron.
Keine Verbindung zu Nachwuchskonsument 4317 möglich. Er ist registriert, aber uns liegen keinerlei weiterverwertbare Daten vor. Bitte um Überprüfung!
Die Nachricht aus dem Verteidigungsministerium gegen Langeweile blinkt ein paar Mal auf allen Wandmonitoren auf.
Keine Verbindung zu Nachwuchskonsument 4317 möglich. Er ist registriert, aber uns liegen keinerlei weiterverwertbare Daten vor. Bitte um Überprüfung!
Valentin wird schwindelig und er nimmt die Brille schnell wieder ab.
Frau C überlegt: „Ich fürchte, wir werden seine Oxytocingeberin zum Gespräch bitten müssen.“
Frau B nickt.
„Frau Liebig, es tut uns leid, dass wir Ihr Potential strapazieren müssen“, beginnt Frau B die unangenehme Unterredung.
Frau C wirft einen verstohlenen Blick auf die Uhr am linken Handgelenk von Valentins Mutter, auf der die bereits verbrachten Stunden im Optimalentfaltungsbereich angezeigt werden. 6:43:12 blinkt auf dem Display und es ist schon Nachmittag. Frau Cs eigene Uhr zeigt 9:28:54 an. Die Uhr sagt ihrem Träger, wann und wie viel Nahrungsflüssigkeit er zu sich nehmen muss, wie viele Schritte er zu gehen hat und wann der ideale Zeitpunkt zum Ruhen ist. Ein echter Helfer, um die eigenen Ressourcen effizient zu verwalten!
„Ihr Sohn verweigert sich der individuell für ihn gestalteten pädagogischen Betreuung und Förderung des Anti-Langeweile-Komplexes“, rügt Frau B die vor ihr sitzende, braunhaarige Frau, die bald wieder eine Vorsorgehautstraffung braucht.
„Wir können Ihnen unter diesen Umständen keine Garantie für eine gesunde, geistige Entwicklung Valentins geben, so wie wir es sonst für jedes unserer betreuten Kinder tun.“
Frau B wartet, bis Frau Liebigs Gesicht an Farbe verliert. Dann senkt sie die Stimme, als würde sie einer guten Freundin die geheime Zutat ihres Lieblingsrezeptes verraten und hält ihre an Frau Liebigs Uhr.
„Die Kontaktdaten des mit unserer Einrichtung kooperierenden Arztes.“
Die beiden Frauen warten, bis das Bling ihnen verrät, dass der Datentransfer erfolgreich abgeschlossen wurde.
„Langeweile im Kindesalter führte zu Entwicklungsstörungen, die sich auf die ganze Gesellschaft auswirken“, schaltet nun auch Frau C sich ein. „Sie sollten sich möglichst schnell mit Doktor M in Verbindung setzen.“
„Danke“, flüstert Frau Liebig, wirft im Aufstehen beinahe den Stuhl um und verlässt den Anti-Langeweile-Komplex mit Valentin an der Hand.
Auf die Wände des Wartezimmers von Doktor M werden Trailer projiziert, die alle nicht länger als zwei bis drei Minuten dauern. Alles andere würde die Konzentrationsspanne des Zuschauers überfordern. Valentin schaut mit großen Augen zu, wie die Leute früher krank wurden, weil sie Dinge aus der schmutzigen Erde aßen. Lautlos betritt Doktor M das Zimmer.
„Valentin“, begrüßt er seinen kleinen Patienten, als hätte er den ganzen Tag auf ihn gewartet.
Doktor M hat olivfarbene Haut, die durch den Kontrast zu seinem weißen Kittel noch dunkler wirkt. Mit der Hand macht er eine einladende Bewegung, die Valentin auffordert, ihm zu folgen. Auf Doktor Ms Handrücken kann Valentin dunkle Härchen erkennen. Er hat keine Angst vor Ärzten, er weiß schon lange, dass der menschliche Körper schrecklich dumm ist und Ärzte ihn besser machen können und so geht er arglos mit Doktor M in das Behandlungszimmer.
„Setz dich doch,“ sagt Doktor M und deutet auf einen Stuhl, der Ähnlichkeit mit dem in einer Zahnarztpraxis hat.
Valentin gehorcht und ist überrascht, wie gemütlich der Stuhl ist.
„Leg deinen Kopf nach hinten.“
Valentin zögert.
„Mach schon“, drängt der Arzt und lächelt, als er merkt, dass seine Schroffheit Valentin verunsichert. Sobald Valentins Kopf die Liegefläche berührt, fängt es an, um ihn herum zu blinken und zu piepsen. Er steht auf einem Fußballfeld, dann in einem Dschungel, kurz darauf in einem Schwimmbad und schließlich türmt sich ein riesengroßer Becher Erdbeereis vor ihm auf. Doktor M überprüft die körperlichen Reaktionen Valentins auf die vor ihn projizierten Welten. Die für Nachwuchskonsument 4317 überdurchschnittlich stimulierenden Bereiche sollen herausgefiltert werden. Valentin wird jetzt an Regalen voller Spielzeug und Süßigkeiten vorbei geschickt. Als Valentin seine Lieblingsschokolade Nussknacker entdeckt, bekommt er großen Appetit und streckt er sich nach vorne aus, um nach der Vollmilchschokolade mit ganzen Nüssen zu greifen. Die Verbindung bricht ab und Valentin findet sich in dem weißen Behandlungszimmer von Doktor M wieder. Verwirrt schaut er sich um.
„Danke, das reicht schon“, lächelt der Mann im weißen Kittel.
Valentin wird hinaus- und seine Mutter hineingebeten. Im Vorbeigehen streicht Frau Liebigs Hand über Valentins Rücken. Doktor M führt sie in das Beratungszimmer und bedeutet ihr, auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz zu nehmen. Zwischen ihnen steht ein Tisch, der so weiß ist, wie auch sonst alles in dieser Arztpraxis.
„Frau Liebig, eine gute und eine schlechte Nachricht – welche wollen sie zuerst hören?“ Doktor M‘s weiße Zähne blitzen.
Frau Liebig seufzt:„Die schlechte.“
Mit einem Tippen verwandelt Doktor M die Tischplatte in ein Tablet.
„Valentin weist tatsächlich abnormes Verhalten auf. Sein Gehirn ist überdurchschnittlich leicht erregbar, gleichzeitig sendet es Impulse aus, mit denen unsere Mediathek nichts anfangen kann.“
Der Doktor schiebt Grafiken auf der Tischoberfläche hin und her.
„Er denkt also an Dinge, die es gar nicht gibt.“
Ein missbilligender Blick trifft Valentins Mutter. Ihre Atmung wird unregelmäßig und sie errötet.
„Wie er auf solche Gedanken kommt sei mal beiseite gestellt.“
Der Arzt lächelt wieder.
„Wichtiger ist nämlich, dass wir ihm helfen können.“
Doktor M entfernt sämtliche Grafiken mit einem Wisch und die Tischplatte ist wieder weiß. Voller Hoffnung sieht Frau Liebig ihn an.
„Zunächst geben wir Valentin Tabletten, die ihm helfen, sich besser zu konzentrieren und ihn auf das individuell zugeschnittene Förderprogramm vorzubereiten.“
Die Werbeanzeige eines Pharmakonzerns blinkt auf der Tischplatte auf.
Der kleine Unterschied: Mit Rita… zu einem erfolgreichen Morgen.
„Da Valentin sich jedoch in der Vergangenheit durch Absetzen der Brille dem Förderprogramm verweigert hat, sollten weitere Maßnahmen in Betracht gezogen werden.“
Frau Liebig schweigt.
„ Eventuelle Langzeitschäden der Langeweile könnten so vielleicht noch verhindert werden,“ setzt Doktor M nach. Der Satz tut seine Wirkung.
„Welche Maßnahmen wären das denn?“, erkundigt sich Frau Liebig zögernd.
„Wir setzen Valentin unter lokaler Betäubung einen Chip ein, der die Brille überflüssig macht und ihn direkt mit der Mediathek des Anti-Langeweile-Zenters verbindet. Dadurch kann er in kürzester Zeit auf denselben Stand mit den anderen Kinder seines Alters gebracht werden – wenn nicht sogar darüber hinaus. Außerdem geben wir Ihnen eine lebenslange Anti-Langeweile Garantie für Valentin.“
Doktor M berührt die Tischplatte und ein Vertrag erscheint auf Frau Liebigs Seite des Tisches. Der Arzt reicht ihr einen Eingabestift.
„Sie müssen nur unterschreiben.“
Als Valentin aus der Narkose erwacht, juckt sein rechtes Ohr. Er hat geträumt, er habe auf einer Wiese gelegen, im hohen Gras. Vielleicht ist eines der schwarzen Dinger in sein Ohr gekrochen? Plötzlich steht der Mann im weißen Kittel vor ihm.
„So, lieber Valentin. Ich wünsche dir ein unterhaltsames Leben. Möge die Langeweile nie wieder Einzug in deine Gedanken finden.“
Jakobsen blickt jedem Minister im Verteidigungskampf gegen die Langeweile in die Augen.
„Wir müssen Ruhe bewahren.“
Irgendwer muss den Hackern geholfen haben.
„Unsere Freunde haben die Datenbank ausspioniert und versuchen, die Verbindung zwischen Mediathek und Konsument zu ihren Gunsten zu manipulieren.“
Jakobsen zwingt sich in den Bauch zu atmen.
„Wir reagieren mit einem Gegenvirus. Wenn wir jetzt nicht schnell sind, bricht die Verbindung zwischen Konsument und Mediathek in weniger als zwei Stunden ab.“
Unglaube in den Gesichtern der Minister. Jakobsen flucht innerlich. Wer ist wohl die Ratte?
„Lassen sie sämtliche Unterhaltungstrailer, die der Mediathek zur Verfügung stehen, über die Bildschirme im öffentlichen Raum laufen“, ordnet er an. „Wir dürfen nur keine Langeweile ausbrechen lassen.“
Valentin bewegt sich durch das Einkaufszentrum, in dem es alles gibt, was er begehrenswert findet. In einem Schaufenster sieht er Lilli aus der Parallelklasse, die ihn freundlich anlächelt. Er bleibt vor dem Schaufenster stehen und blickt sie an. Wenn er ihre Bluse antippt blinken zwölf Tafeln Nussknackerschokolade auf, mit denen er das, was darunter liegt, freischalten kann. Das Programm bietet ihm die Möglichkeit, Schokolade vielfältig zu verwenden, sie an andere Mitspieler zu verleihen oder im Ausland zu investieren. Potentielle Kriminelle und angehende Schuldenmacher werden durch das Nutzerverhalten frühzeitig von der Datenbank erkannt. Gleichzeitig lernen die Nachwuchskonsumenten, zu wirtschaften. Der Chip hat die Brille für alle nachfolgenden Generationen ersetzt.
„Verdammt, wie konnte dieser scheiß Virus überhaupt unbemerkt in unsere Datenbank eindringen, Sie Idiot? Sorgen Sie für Unterhaltung, sonst bricht hier bald das Chaos aus!“
Keine Kunstpausen mehr, dafür fehlt die Zeit.
Ein kleiner Mann mit großen Achselschweißflecken unterbricht die Krisensitzung: „Die Öffentlichen sind jetzt auch betroffen, Chef.“
Jakobsens Hände verharren in der Luft. „Wir werden sterben. Wir werden alle vor Langeweile sterben.“
Valentin findet sich in der Kuschelecke wieder. Sein Atem geht schnell. Er versucht, einen Gedanken zu fassen. Es ist, als renne ein Welpe seinem eigenen Schwanz hinterher. Was sind das für Leute um ihn herum? Valentin strengt sich an, sich zu konzentrieren, auf irgendetwas, überlegt, was er gegen die Stille in seinem Kopf, die an die Schädeldecke haut, tun kann. Sie ist so laut, dass er sich die Ohren zuhalten muss. Er schreit, um sie zu übertönen. Andere Nachwuchskonsumenten, die mit ihm in der Kuschelecke aufgetaucht sind, nachdem die Verbindung zur Mediathek plötzlich abgebrochen ist, folgen seinem Beispiel. Einige springen auf. Frau A, B und C sind in Tränen aufgelöst und zur Tür hinausgestürmt. Auch Valentin kann nicht mehr sitzen. Seine Beine zittern, als er aufsteht. Wie lange hat er schon nicht mehr gestanden? Valentin hört ein Wimmern und erschreckt, als er merkt, dass er es ist, der zu weinen angefangen hat. Er weiß nicht, wann er das letzte Mal geweint hat, ob er überhaupt irgendwann schon einmal geweint hat. Valentin tritt aus dem Anti-Langeweile-Komplex heraus und beginnt zu rennen. Er rennt und schreit und rennt und immer wieder begegnet er Menschen, die das Selbe tun. Keiner bleibt stehen und fragt den anderen, warum hier geschrien wird. Wie führt man ein Gespräch? Irgendwann kann Valentin nicht mehr. Er schnappt nach Luft, Rotze klebt ihm im Gesicht. Mit aller Kraft presst er die Hände gegen seinen Schädel.
„Die erste, nationale Langeweileepidemie hat ihre unschuldigen Opfer gefordert.“
Die Augen der Nachrichtensprecherin sind gerötet, doch ihre Stimme ist fest. Die öffentlichen Bildschirme funktionieren wieder. Valentin liegt auf dem Boden. Er spürt sein Herz gegen den Asphalt hämmern und wusste gar nicht, dass Herzen so laut schlagen können. Er spürt die Hitze, die sich in ihm ausbreitet und wusste gar nicht, dass sich sein Körper derart erwärmen kann. Er hat einen metallenen Geschmack im Mund. Ein angenehmes Gefühl breitet sich in ihm aus, so als würde er sich die Ohren mit überdimensionalen Q-Tips putzen, an deren Enden riesige Wattebäusche steckten, die sich im ganzen Kopf ausdehnten. Er hat aufgehört, gegen die Stille zu kämpfen und gibt sich ihr hin. Verbindung zu Nachwuchskonsument 4317 kann nicht mehr aufgebaut werden.
„Meine Damen und Herren, jetzt wo wir wissen, wozu die Langeweile fähig ist, müssen wir noch aktiver, noch bestimmter und noch kompromissloser im Kampf gegen diese Hydra vorgehen.“ Es ist Jakobsens letzte Rede vor seinem Rücktritt. Er ist ein bisschen weniger glatt als noch vor ein paar Jahren, trotz aller Vitalitätsmaßnahmen. Wer genau hinsieht, wird Ringe unter seinen blauen Augen erkennen können.
„Deswegen: Gehen sie noch heute zum Arzt und lassen Sie sich einen Chip einpflanzen. Damit so etwas nie wieder passiert. Keine Macht der Langeweile!“