Dunkle Wolken erwecken das Gefühl es sei bereits Abend, dabei hat der frühe Nachmittag erst eingesetzt. Die Tage werden kürzer, die Vögel fliegen in den Süden. Ihr Gezwitscher ist dem Heulen des Windes gewichen.
Es ist zu kalt. Die Klimaanlage des Supermarktes arbeitet auf Hochtouren, dabei ist der Sommer längst vorbei. Ich ziehe die Ärmel meines Pullovers über meine kühlen Handflächen.
Das Stimmengewirr um mich herum ist ein Brei aus leisen Flüchen, Telefongesprächen und Kindergeschrei. Mir kommt es vor, als ob sich die Menschen um mich herum immer weiter von mir entfernen, zu einer grauen Masse verschwimmen und sich wie ein Strom toter Fische durch die Gänge schieben. Endlich nähere ich mich der Kasse.
Bei jedem Kunden ein von gespielter Freundlichkeit geprägtes „Guten Tag“, ein eher erleichterndes als dankendes „Auf Wiedersehen“ – und das ganze Spiel von Neuem.
Während ich den Laden verlasse, höre ich, wie die Kassiererin den nächsten Kunden begrüßt.
Draußen erwartet mich die trockene Herbstluft.
Ich genieße es, wie sich meine Lungen füllen und die stechende Kälte in meiner Nase angenehm kribbelt. Für einen Moment schließe ich meine Augen und sauge das Leben ein.
Sie ist hübsch, wenn auch nicht so hübsch wie du.
Vielleicht ein oder zwei Kilos abnehmen und die Haare heller färben, das würde ihr stehen.
Wie alt sie wohl ist?
Sie bewegt sich mit den leichten Bewegungen einer Sportlerin durch den Supermarkt. Du tippst auf Leichtathletik oder Schwimmen. Ihr Blick ist abwesend, ihre Gedanken scheinen ganz weit weg zu sein. Vielleicht ist sie verliebt? Oder wurde verlassen? Bestimmt ist sie ehrgeizig, hat Ziele in ihrem Leben. Sie hat diesen Blick. Sie ist genau wie du.
Wie du einmal warst, wie du nie wieder sein kannst, wie es auch kein anderer mehr sein soll.
Ich sollte mich beeilen, mein Zug fährt in wenigen Minuten. Irgendetwas ist komisch, ich habe das Gefühl beobachtet zu werden. Nicht von irgendeinem Mann - der Blick, den ich auf mir spüre, fühlt sich viel mehr nach einem Starren, als nach neugieriger Begierde an.
Meine Schritte sind nicht mehr so fest, meine Haltung nicht mehr so gerade, als ich mich auf den Weg zum Bahnhof mache. Ein kalter Windzug lässt mich erschauern.
„Entschuldigung, hast du Feuer?“
Die Tasche mit meinen Einkäufen fällt mir fast aus der Hand. Ich habe nicht bemerkt, dass jemand hinter mir läuft. Die raue Stimme passt nicht zu der jungen Frau, die nun vor mir steht. Die blonden Haare umspielen ihr zartes Gesicht. Eine markante Nase nimmt ihm die kindlichen Züge, macht das Gesicht dadurch etwas härter und zugleich ungewöhnlicher. Schöner.
„Tut mir leid, aber ich rauche nicht.“
Ihre Augen sind dunkel, fast schwarz. In dem faden Licht der Straßenlaterne schimmern sie grünlich. Wie das Moor. Tief. Dazu einladend, sich in ihnen zu verlieren. Ich habe das Gefühl, in ihren Augen zu versinken und mich nicht mehr befreien zu können. Die Luft bleibt mir für einen kurzen Moment, in dem ich in diesen Augen ertrinke, weg.
Das Moor ist tückisch.
Die Art wie du angeschaut wirst – es ist jedes Mal gleich. Früher hast du es als Kompliment betrachtet, wenn man in deiner Gegenwart stammelte, wenn sich bei dem Betreten eines Raumes alle Blicke sofort auf dich richteten. Bis du gemerkt hast, dass du mehr willst, als das. Dass du mehr sein willst, als nur das schöne Mädchen. Aber keiner wollte hinter die Fassade schauen, keiner wollte hören, dass auch du Fehler hattest. Stets umgeben von Menschen, die wie die Zuschauer eines Kinofilms auf deine nächste Handlung warten.
Du bliebst auf der Leinwand. Unfähig, dich nach dem Ende des Films unter deine Zuschauer zu mischen.
„Mein Name ist Saphira.“
Sie spricht mit einer Melodie, die wie ein leichtes Sommerlied klingt. Ich weiß nicht was es ist, aber ich fühle mich zu ihr hingezogen.
„Eli..Elisabeth.“
„Weißt du, wo der Bahnhof ist?“
„Du musst einfach geradeaus, dann durch den Park und die Straße runter. Ich muss auch zum Bahnhof.“ Die Kirchturmuhr schlägt sechs Mal, mein Zug ist abgefahren.
Ich habe das Gefühl, diese Frau schon einmal gesehen zu haben, doch ich wüsste nicht wo.
Ich wohne in einer kleinen Stadt, hier kennt jeder jeden und solch eine Schönheit wäre schon längst Gesprächsthema gewesen. Vielleicht ist sie ja neu hier? Oder nur auf der Durchreise? Ich bin fasziniert von diesem Gesicht, wie gebannt schaue ich ihr immer wieder in die dunklen Augen.
Und dann war da jemand, der anders war. Jemand, der dir nicht sagte, du seiest hübsch, jemand der die sagte, du hättest interessante Gedanken.
Jemand, der sagte, er liebe dich nicht für deinen Körper, sondern für deine Sicht der Dinge.
Du hast ihm geglaubt. Hast ihm gezeigt, was andere nie sehen wollten und was du gut verborgen hast. Du hast geliebt, mit einer Naivität und zugleich einer Leidenschaft, dass es dir teilweise unheimlich war.
Er war der Erste.
Dass er dir mit seinen Berührungen nicht nur die Unschuld, sonder auch das Leben nahm, dass hättest du niemals geahnt.
„Wäre es ein Problem, wenn ich mit dir gehe? Ich kenne mich hier echt nicht aus und möchte mich nicht verirren.“
Als ob sie meine Gedanken gelesen hätte. Ich will etwas über sie erfahren, will wissen, wo sie herkommt, wer sie ist.
„Klar ist das in Ordnung. Wo kommst du denn her und was verschlägt dich in dieses Kaff?“
Versuche ich gerade wirklich, eine Frau zu beeindrucken? Sie ist so schön.
„Ich bin auf der Durchreise nach Berlin, mein Studium fängt nächste Woche wieder an und ich wollte ein paar alte Schulfreunde besuchen bevor ich mich in die Anonymität der Großstadt stürze.“
Sie hat ein schönes Lächeln. Grübchen in den roten Wangen, ihre Augen strahlen.
Auf dem Weg zum Bahnhof vertiefen wir uns in ein angeregtes Gespräch. Doch immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich gebannt auf ihre Lippen starre und die Worte, die sie spricht, vergesse.
Mit jedem Satz schwindet ihre Nervosität. Sie hört auf, jedes Wort mit einer Geste zu unterstreichen und wird ruhiger. Sie ist dir so ähnlich.
Du tastest nach der Rasierklinge in deiner Tasche. Einmal willst du wissen, wie es sich anfühlt. Wie es sich für ihn angefühlt haben muss.
Sie ist ein zufälliges Opfer, auch wenn es erstaunlich ist, wie ähnlich ihr euch seid. Das drückende Gefühl in der Magengegend, das Austrocknen der Kehle – du bist nervös. Und vielleicht weißt du auch, dass irgendetwas nicht richtig ist. Doch die Genugtuung, die du dir für diesen Augenblick verhoffst, in dem du dein Schicksal auch zu ihrem machst, ist verlockend. Zu verlockend als daran denken zu können, was richtig oder falsch ist.
Der Bahnhof ist klein und dreckig. Es gibt kein Licht, die Laterne am Bahnsteig Zwei wurde schon vor Jahren von irgendwelchen Betrunkenen kaputt getreten. Keiner hat sie repariert.
Außer uns sind keine Menschen am Bahnhof. Ich stelle meine Einkaufstüte auf die beschmierte Bank. Hurensohn. Ficken. Geh‘ sterben.
Saphira geht in Berlin auf die Schauspielschule, ihr Freund ist Architekturstudent, sie kennen sich vom Feiern und wohnen seit einem halben Jahr zusammen. Sie hat einen großen Bruder und eine kleine Schwester, die Eltern sind beide Lehrer.
Sie merkt nicht, dass du ihr von dem Leben erzählst, dass du nie wirst leben können. Dass du ihr von einer Familie erzählst, die es so nur in deiner Fantasie gibt. Dass das alles eine große Lüge ist. Du schaust immer wieder auf die Uhr.
Wieder greifst du nach der Klinge in deiner Tasche, während du ihr ein Lächeln schenkst. Deine Augen lachen nicht mit. Wie es sich anfühlen wird, Herrscher über Leben und Tod zu sein? Fest umschließt du die Klinge. Noch darfst du nicht zu fest darauf drücken. Noch nicht.
„Meine Damen und Herren, in Kürze fährt ein: Regionalexpress 735….!“
„Und einmal waren wir alle zusammen in der Türkei und…“
Saphira springt mitten im Satz auf. Ich weiß nicht, was auf einmal los ist. Sie wirkt auf einmal panisch, ihr Gesichtsausdruck ist gehetzt. Ein Tier auf der Flucht vor dem Angreifer. Sie hält mir ihre Hand zum Abschied hin.
Ihr Schrei ist eine Mischung aus Entsetzen und Angst. Angst macht einen Menschen nackt, zeigt sein wahres Gesicht. Die Klinge vereint euch, euer Blut. Und damit euer Schicksal.
Immer fester drückst du zu, bis dir schwindelig wird. Es kann sich nur um Sekunden handeln, bis sie ihre Hand wegreißt, aber du hast es getan. Du merkst, dass die Gefühle dich wieder beherrschen wollen. Es ist wie ein Höhenflug. Eben noch warst du Gott. Herrscher über Leben und Tod. Doch sobald du die Gefühle zulässt, musst du dir eingestehen, dass du schwach bist. Dass du nichts Göttliches an dir hast.
Dass du einen Fehler gemacht hast...
Schmerz. Blut. Panik. Ich bin für eine Sekunde wie erstarrt, weiß nicht, was passiert. Klebrige Wärme. Saphiras Gesicht, verzogen zu einer Grimasse.
Der Zug fährt donnernd ein. Weg, ich muss hier weg. Möglichst schnell.
Ich stürze in das leere Abteil, setze mich zitternd auf einen Sitz. Gucke, ob Saphira mir gefolgt ist, doch sie sitzt immer noch auf der brauen Bank an Gleis zwei. Ihr Gesicht wie eine emotionslose Maske.
Ein Schnitt in meiner rechten Hand. Rotes Blut. Mein Blut. Saphiras Blut. Der Schnitt einer Rasierklinge.
Der Zug setzt sich ruckelnd in Bewegung, rauscht an Saphira vorbei. Ihre blonden Haare wehen im Fahrtwind, sie sieht aus wie ein kleines Mädchen, das sich verlaufen hat.
Benommen sitzt du auf der Bank. Die Lichter des Zuges haben das Plakat, dass du für Werbung gehalten hast, beleuchtet Noch lange nachdem der Zug, in den Elisabeth geflüchtet ist, abgefahren ist, sitzt du so da. Dein Blick ist stur geradeaus gerichtet. Es scheint Ironie des Schicksals zu sein.
Du stehst auf, siehst dich noch einmal um. „Meine Damen und Herren, in kürze fährt ein…", ertönt die Durchsage am Bahnhof. Die Lichter der Regionalbahn erleuchten das Plakat noch einmal. Die roten Letter stechen dir ins Auge und nehmen dir den Atem. „Gib Aids keine Chance.“