Der Wunsch nach echter Demokratie, nach mehr Sozialstaat, nach Revolution. Der Wunsch nach einer besseren Welt. Was Menschen in Russland und in Deutschland vor Wut auf die Straße treibt, was sie trennt und was sie vereint.
Es ist der 24.12.2011, 14.00 Uhr. Der Platz des Tausendjährigen Bestehens der tatarischen Hauptstadt Kazan ist umstellt mit Absperrgittern, überall stehen Polizisten mit Fellmützen auf dem Kopf. Um auf die Demonstration zu gelangen muss ich durch eine Sicherheitskontrolle, wie man sie von Flughäfen kennt. Meine Tasche wird geöffnet, der Inhalt kritisch durchschaut, ich werde abgetastet. Ein komisches Gefühl. Es ist kalt, minus 10°C, doch weder die Kälte, noch die etlichen Polizisten halten die Menschen davon ab, in Scharen auf den Platz zu strömen. Es sind die größten Demonstrationen die das Land seit dem Ende der Sowjetunion erlebte. Eindeutig manipulierten Parlamentswahlen vom 04.12.2011, Korruption im ganzen Land und damit verbundene Chancenungleicheit machen die Menschen wütend.
„So geht es nicht weiter, wir müssen jetzt anfangen, für unsere Zukunft zu kämpfen!“
„Wenn du willst, dass dein Vertrag am Jahresende verlängert wird, dann weist du, wo du dein Kreuz setzen musst, wurde uns gesagt. Ich kann doch nicht einfach meinen Job aufs Spiel setzen! Demokratie herrscht nur da, wo man es sich leisten kann,“ beschwert sich Boris.
Boris ist 34 Jahre alt und spricht schnell. Seine Augen wandern rastlos hin und her, er gestikuliert mit seinen Armen. Ich spüre seinen Ärger. Ärger auf die Regierung, die ihre Versprechen nicht hält. Ärger auf die Presse, die nicht frei berichtet. Ärger auf die Menschen, die für Geld ihre Stimme verkaufen. „Ich habe einen Punkt erreicht, an dem ich andere nicht mehr für meine Situation verantwortlich machen kann und will. Ich muss selber entscheiden was richtig oder falsch ist und dann für meine Sache einstehen – und das tue ich hier. Ich kämpfe nicht für mehr Geld, sondern für die Zukunft meines geliebten Landes, meiner Kinder und meiner Enkel.“
Auch die Redner, die mit kälteroten Nasen in das Mikrofon rufen, sehen das ähnlich wie Boris. „So geht es nicht weiter, wir müssen jetzt anfangen, für unsere Zukunft zu kämpfen!“ lautet die Grundaussage dieses Nachmittags. Die etwa eintausend Demonstranten sind friedlich, beinahe verhalten - vielleicht weil sie sich nicht trauen, vor den über 200 Polizisten richtig wütend zu werden. Sie halten Schilder, sie halten weiße Luftballons, das Zeichen der oppositionellen Bewegung, in die Luft. Für manche steht viel auf dem Spiel: Wenn Eduard auf der Demo gesehen wird, dann fällt er durch seine nächste Prüfung im Studium. Eine Drohung, die für mich unvorstellbar klingt, für Eduard und seinen Kommilitonen der Preis für ihre eigene Meinung ist.
Seifenblasen für eine bessere Welt
Ein ganz anderes Bild dagegen in Frankfurt am Main: Sonnenschein, Seifenblasen, laute Musik. Es ist der 19.05.2012, das Wochende der „Europeen Days of Action“.
Rund fünfundzwanzigtausend Demonstranten ziehen durch Frankfurts Straßen, sie protestieren gegen die Macht der Banken, gegen Antifaschismus, für mehr Toleranz. Es ist eine Demonstration für eine bessere Welt.
„Es kann doch nicht sein, dass wir Papier, von dem irgendwann mal jemand behauptet hat, es sei wertvoll, über die Rechte von Menschen stellen,“ empört sich Liana.
Liana hat lange braune Haare, trägt einen pinken Zauberstab und Seifenblasen mit sich. Sie ist Politikstudentin und heute hier, um ihren „Dienst für die Demokratie zu tun“.
Die Demonstration in Frankfurt ist nicht nur größer, als die in Kazan - sie ist vor allem lauter, die Menschen haben weniger Berührungsängste.
Die Masse ist sich ihrer Macht bewusst
Ich werde sofort von der Stimmung der Masse mitgerissen, ein fremder Arm harkt sich bei mir ein und plötzlich höre ich mich selber in einer mir bis dahin eher unbekannten Sprache „Siamo tutti antifascisti!“ rufen: Wir sind alle Antifaschisten. Wir, das sind Italiener, das sind Deutsche, das sind Griechen. Wir, das sind Menschen, die es satt haben von einer Regierung vertreten zu werden, die Gewinnmaximierung vor das Wohlergehen ihrer Bürger stellt. Menschen, die mehr Solidarität und Toleranz im Alltag, mehr Transparenz und Mitbestimmung fordern. Während der endlos erscheinende Demonstrationszug am Main entlang zieht, schließen sich immer mehr Menschen an – aus Neugier, aus Engagement für eines der vielen vertretenen Themen, aus einem spontanen Impuls heraus. Die Hemmschwelle, an der Demonstration teilzunehmen, ist sehr viel geringer, als die in Russland. Keine Absperrgitter, keine Sicherheitskontrollen. Und die Polizei? Wird mit dem Spruch „Für die Banken steht ihr da, Marionetten, hahaha“, ins Lächerliche gezogen. Keine Spur von Verlegenheit, die Masse nutzt ihr Recht auf Versammlungsfreiheit, ist sich ihrer Macht bewusst.
„Wenn Menschen verstehen, haben wir gewonnen“
In Russland muss man dieses Bewusstsein erst erlernen. Es ist schwer, ein Thema zu finden, das alle, von Moskau bis ins tiefe Sibirien, betrifft. Mit den Wahlmanipulationen hat sich so ein Thema gefunden. Die Proteste der Opposition gehen weiter, man will sich nicht mehr alles gefallen lassen. Und auch wenn Putin den vorhersehbaren Einzug in den Kreml geschafft hat, ist dies noch lange kein Grund, aufzugeben. Die Struktur eines Landes ändert sich nicht in ein paar Monaten. Das weiß auch Boris. „Jeder einzelne muss verstehen, dass Demokratie nur mit Menschen funktioniert, dass er selbst für sich, seine Zukunft und sein Land verantwortlich ist und dass er handeln muss. Wenn die Menschen verstanden haben, dass sie etwas bewirken können, dann haben wir gewonnen.“
Es ist der 24.12.2011, 14.00 Uhr. Der Platz des Tausendjährigen Bestehens der tatarischen Hauptstadt Kazan ist umstellt mit Absperrgittern, überall stehen Polizisten mit Fellmützen auf dem Kopf. Um auf die Demonstration zu gelangen muss ich durch eine Sicherheitskontrolle, wie man sie von Flughäfen kennt. Meine Tasche wird geöffnet, der Inhalt kritisch durchschaut, ich werde abgetastet. Ein komisches Gefühl. Es ist kalt, minus 10°C, doch weder die Kälte, noch die etlichen Polizisten halten die Menschen davon ab, in Scharen auf den Platz zu strömen. Es sind die größten Demonstrationen die das Land seit dem Ende der Sowjetunion erlebte. Eindeutig manipulierten Parlamentswahlen vom 04.12.2011, Korruption im ganzen Land und damit verbundene Chancenungleicheit machen die Menschen wütend.
„So geht es nicht weiter, wir müssen jetzt anfangen, für unsere Zukunft zu kämpfen!“
„Wenn du willst, dass dein Vertrag am Jahresende verlängert wird, dann weist du, wo du dein Kreuz setzen musst, wurde uns gesagt. Ich kann doch nicht einfach meinen Job aufs Spiel setzen! Demokratie herrscht nur da, wo man es sich leisten kann,“ beschwert sich Boris.
Boris ist 34 Jahre alt und spricht schnell. Seine Augen wandern rastlos hin und her, er gestikuliert mit seinen Armen. Ich spüre seinen Ärger. Ärger auf die Regierung, die ihre Versprechen nicht hält. Ärger auf die Presse, die nicht frei berichtet. Ärger auf die Menschen, die für Geld ihre Stimme verkaufen. „Ich habe einen Punkt erreicht, an dem ich andere nicht mehr für meine Situation verantwortlich machen kann und will. Ich muss selber entscheiden was richtig oder falsch ist und dann für meine Sache einstehen – und das tue ich hier. Ich kämpfe nicht für mehr Geld, sondern für die Zukunft meines geliebten Landes, meiner Kinder und meiner Enkel.“
Auch die Redner, die mit kälteroten Nasen in das Mikrofon rufen, sehen das ähnlich wie Boris. „So geht es nicht weiter, wir müssen jetzt anfangen, für unsere Zukunft zu kämpfen!“ lautet die Grundaussage dieses Nachmittags. Die etwa eintausend Demonstranten sind friedlich, beinahe verhalten - vielleicht weil sie sich nicht trauen, vor den über 200 Polizisten richtig wütend zu werden. Sie halten Schilder, sie halten weiße Luftballons, das Zeichen der oppositionellen Bewegung, in die Luft. Für manche steht viel auf dem Spiel: Wenn Eduard auf der Demo gesehen wird, dann fällt er durch seine nächste Prüfung im Studium. Eine Drohung, die für mich unvorstellbar klingt, für Eduard und seinen Kommilitonen der Preis für ihre eigene Meinung ist.
Seifenblasen für eine bessere Welt
Ein ganz anderes Bild dagegen in Frankfurt am Main: Sonnenschein, Seifenblasen, laute Musik. Es ist der 19.05.2012, das Wochende der „Europeen Days of Action“.
Rund fünfundzwanzigtausend Demonstranten ziehen durch Frankfurts Straßen, sie protestieren gegen die Macht der Banken, gegen Antifaschismus, für mehr Toleranz. Es ist eine Demonstration für eine bessere Welt.
„Es kann doch nicht sein, dass wir Papier, von dem irgendwann mal jemand behauptet hat, es sei wertvoll, über die Rechte von Menschen stellen,“ empört sich Liana.
Liana hat lange braune Haare, trägt einen pinken Zauberstab und Seifenblasen mit sich. Sie ist Politikstudentin und heute hier, um ihren „Dienst für die Demokratie zu tun“.
Die Demonstration in Frankfurt ist nicht nur größer, als die in Kazan - sie ist vor allem lauter, die Menschen haben weniger Berührungsängste.
Die Masse ist sich ihrer Macht bewusst
Ich werde sofort von der Stimmung der Masse mitgerissen, ein fremder Arm harkt sich bei mir ein und plötzlich höre ich mich selber in einer mir bis dahin eher unbekannten Sprache „Siamo tutti antifascisti!“ rufen: Wir sind alle Antifaschisten. Wir, das sind Italiener, das sind Deutsche, das sind Griechen. Wir, das sind Menschen, die es satt haben von einer Regierung vertreten zu werden, die Gewinnmaximierung vor das Wohlergehen ihrer Bürger stellt. Menschen, die mehr Solidarität und Toleranz im Alltag, mehr Transparenz und Mitbestimmung fordern. Während der endlos erscheinende Demonstrationszug am Main entlang zieht, schließen sich immer mehr Menschen an – aus Neugier, aus Engagement für eines der vielen vertretenen Themen, aus einem spontanen Impuls heraus. Die Hemmschwelle, an der Demonstration teilzunehmen, ist sehr viel geringer, als die in Russland. Keine Absperrgitter, keine Sicherheitskontrollen. Und die Polizei? Wird mit dem Spruch „Für die Banken steht ihr da, Marionetten, hahaha“, ins Lächerliche gezogen. Keine Spur von Verlegenheit, die Masse nutzt ihr Recht auf Versammlungsfreiheit, ist sich ihrer Macht bewusst.
„Wenn Menschen verstehen, haben wir gewonnen“
In Russland muss man dieses Bewusstsein erst erlernen. Es ist schwer, ein Thema zu finden, das alle, von Moskau bis ins tiefe Sibirien, betrifft. Mit den Wahlmanipulationen hat sich so ein Thema gefunden. Die Proteste der Opposition gehen weiter, man will sich nicht mehr alles gefallen lassen. Und auch wenn Putin den vorhersehbaren Einzug in den Kreml geschafft hat, ist dies noch lange kein Grund, aufzugeben. Die Struktur eines Landes ändert sich nicht in ein paar Monaten. Das weiß auch Boris. „Jeder einzelne muss verstehen, dass Demokratie nur mit Menschen funktioniert, dass er selbst für sich, seine Zukunft und sein Land verantwortlich ist und dass er handeln muss. Wenn die Menschen verstanden haben, dass sie etwas bewirken können, dann haben wir gewonnen.“